Hasan Oluk ist 1943 als das zweit älteste von fünf Kindern in Kahramanmaras in der Ortschaft Düzbag in der Türkei geboren. Er kam 1969 nach Deutschland.
Elif Oluk ist 1950 als Älteste von sechs Geschwistern in Kahramanmaras in der Türkei geboren. Sie kam, zusammen mit ihren Kindern, 1976 zu ihrem Mann nach Deutschland.
Haben Sie den Kindergarten besucht Frau Oluk?
Elif Oluk: Ich habe weder einen Kindergarten noch eine Schule besucht. Mein Vater sagte, dass die Mädchen nicht zur Schule gehen, deshalb bin ich nicht gegangen.
Und was haben Sie in dieser Zeit gemacht?
Elif Oluk: Was kann man denn schon machen im Dorf, wir haben uns zu Hause beschäftigt. Ich habe sowieso mit 13 Jahren geheiratet. Ich bin eigentlich 1950 geboren, mein Vater hat mich allerdings vier Jahre älter eintragen lassen. Am 09.03.1963 habe ich geheiratet, jetzt sind wir genau 47 Jahre verheiratet.
Und haben Sie die Schule besucht Herr Oluk?
Hasan Oluk: Nein, ich habe auch nicht die Schule besucht.
Wollten Sie nicht?
Hasan Oluk: Einmal brachte mich meine Großmutter zur Schule. Es war zur Frühjahrszeit, dort zog mich eine Lehrerin am Ohr lang. Ich rannte weinend nach Hause und sagte, dass ich nie wieder die Schule besuchen werde. Da mein Vater sowieso gegen staatliche Schulen war, sagte er, sie seien die Schulen der Gottlosen und schickte mich zur Koranschule. Diese besuchte ich dann acht bis zehn Jahre. Anschließend wurde ich zum Wehrdienst gerufen, dort war das Lesen und Schreiben Pflicht und da ich nie Türkischunterricht hatte, wurde ich drei Monate zur Ali okulu (= Schule für Analphabeten, Anm.des Übersetzers) geschickt. Damals gab es so ein System und das musste man machen. Im Anschluss konnte man mit dem Wehrdienst beginnen. Da ich das alte Türkisch schreiben und lesen konnte, war ich nach kaum einem Monat in der Lage meiner Familie Briefe zu schreiben. Die lese- und schreibkundigen Kameraden haben direkt mit ihrem Wehrdienst begonnen. Ich war gerade drei Monate verheiratet, als ich mit dem Wehrdienst begann. Genau zwei Jahre konnte ich nicht ins Dorf kommen. 1965 beendete ich meinen Wehrdienst und habe vier Jahre im Dorf gelebt und mich mit Viehzucht beschäftigt. Ich merkte, dass ich dies nicht länger machen wollte, habe mir von Bekannten Geld geliehen und bin 1969 nach Deutschland gekommen.
Und können Sie noch arabisch?
Hasan Oluk: Natürlich kann ich es noch, ich lese schließlich den Koran.
Frau Oluk, was haben Sie in den zwei Jahren erlebt, in denen Sie auf Ihren Mann warteten?
Elif Oluk: Was kann ich denn im Dorf erleben? Es gab keinen Fernseher, dass ich mir was anschauen konnte. Ich konnte weder lesen noch schreiben, um Briefe zu schreiben.
Hasan Oluk: Wir konnten aus Respekt nicht einmal den Namen unserer Ehefrau im Brief erwähnen. Jedem haben wir liebe Grüße bestellt, nur unserer Ehefrau nicht. Früher war es so, wir konnten beispielsweise aus Respekt auch nicht unsere eigenen Kinder in den Arm nehmen, sobald die Eltern in der Nähe waren.
Hatten Sie schon Kinder während Ihrer Wehrdienstzeit?
Hasan Oluk: Nein, wir haben nach sieben Jahren unser erstes Kind bekommen.
Und wie kamen Sie auf die Idee nach Deutschland einzureisen?
Hasan Oluk: Einige aus unserem Ort waren schon nach Deutschland eingereist und man hörte es auch von Anderen, dass viele dies machten. Mit 6000 türkischen Lira konnte man nach Deutschland kommen. 1969 haben wir mit einem Freund unser Geld zusammengelegt und sind so von Istanbul nach Deutschland geflogen.
Sind Sie mit Ihrer Frau gemeinsam geflogen?
Hasan Oluk: Nein, ich kam alleine. Meine Frau und meine Kinder habe ich dann 1976 zu mir geholt. Als ich nach Deutschland kam, war meine Frau schwanger. 1970 haben wir unseren ersten Sohn bekommen. Mein zweites Kind, ebenfalls ein Junge, kam 1974 zur Welt. 1976 kam unsere Tochter zur Welt, sie ist gehbehindert. Meine Tochter war drei bis vier Tage alt, als wir nach Deutschland kamen. Da wir nicht die finanziellen Mittel zum Fliegen hatten, mussten wir mit dem Bus bis nach München fahren. Und ein Jahr später, also 1977, kam dann unser viertes Kind hier zur Welt. Ich muss allerdings sagen, dass ich sehr zufrieden bin in Deutschland. Es gibt einige Kameraden, die sich hier unterdrückt und niedergemacht fühlen. Ich persönlich kann mich dem nicht anschließen. Ich war nie arbeitslos in Deutschland. 38 Jahre habe ich durchgehend gearbeitet. Genau gesagt, habe ich zwei Jahre in Dänemark gearbeitet und 36 Jahre in Deutschland.
Wann haben Sie in Dänemark gearbeitet?
Hasan Oluk: Zunächst kam ich nach Deutschland und lebte hier 14 Monate. Anschließend bin ich nach Dänemark und habe dort, wie gesagt, zwei Jahre gearbeitet. Nach einer Anwerbung bin ich dann nach Flensburg gekommen. Nachdem ich sieben Monate in Flensburg gelebt habe, bin ich zu meinem Onkel nach Koblenz gezogen und habe dort genau 14 Jahre gearbeitet, bevor ich schließlich 1985 nach Dietzenbach kam und wir uns hier niedergelassen haben.
Wo haben Sie alles gearbeitet?
Hasan Oluk:In Dänemark haben wir Anhänger an die Lkws gehängt. In Flensburg habe ich als Heizungsinstallateur gearbeitet und in Koblenz habe ich 14 Jahrein einer Kunststofffabrik gearbeitet. Im Allgemeinen bin ich aber sehr zufrieden. Ich habe gearbeitet, habe meine Kinder unterstützt so weit ich es konnte. Meine gehbehinderte Tochter bekam ein Stipendium für ein 9-monatiges Auslandstudium in den USA und studierte hier anschließend mit Erfolg Wirtschaftsrecht. Mein zweiter Sohn hat an der Universität in Frankfurt Jura studiert und eröffnete mit einem griechischen Freund eine Kanzlei und arbeitet dort weiterhin. Mir geht es auch gut, ich bin gesund. Mehr kann ich auch nicht verlangen.
Und sind Sie nun in Rente?
Hasan Oluk: Ja, bin ich.
Ich möchte auch Frau Oluk gerne einige Fragen stellen. Frau Oluk, Sie waren ziemlich lange alleine mit Ihren Kindern. Wie waren denn Ihre Gedanken zu dieser Zeit, wollten Sie nicht nach Deutschland?
Elif Oluk: Da wir Deutschland nicht kannten, gab es Hemmungen oder Angst davor. Ich wusste nicht, was ich dort machen könnte. Erst wollte mich mein Mann nach Dänemark bringen, aber da ich weder lesen noch schreiben konnte und auch keine Fremdsprache sprechen konnte, wollte ich nicht mit. Und für Deutschland habe ich mich überreden lassen, da es hier viele Türken gibt und auch viele Bekannte und Freunde aus unserem Ort. In der Türkei habe ich ohne meinen Mann schwierige Tage gehabt. Mein ältester Sohn wurde einmal sehr krank und ich musste jemanden finden, der uns zum Krankenhaus fahren konnte. Wen konnte ich denn im Dorf fragen? In der Regel machte dies ein Bruder oder der Vater. Das nächste Krankenhaus lag 120 km entfernt und ich musste meinen Sohn ständig hin und her fahren.
Wie waren Ihre Gefühle als Sie das erste Mal nach Deutschland kamen?
Elif Oluk: Als ich das erste Mal nach Deutschland kam, arbeitete mein Mann immer in Nachtschichten. Unsere Wohnung war im Erdgeschoss und das Haus lag außerhalb. Einen Fernseher hatte ich zuvor noch nicht gesehen und hatte sogar davor Angst. Mein Sohn spürte das und fragte mich nachts, ob ich Angst hätte. Um ihn zu beruhigen konnte ich meine Angst nie zugeben. Irgendwann habe ich mich bei meinem Mann ausgeweint und ihn gebeten, uns entweder wieder in die Türkei zu schicken oder mit der Nachtschicht aufzuhören.
Hatten Sie gar kein Umfeld?
Elif Oluk: Nein. Unser erster Wohnort war eine Ortschaft bei Koblenz und dort lebten keine Türken. Wir hatten diese Wohnung nur gemietet, weil sie in der Nähe seines Arbeitsplatzes war. Ich hatte weder ein Auto, noch einen Führerschein, konnte weder lesen noch schreiben. Hätte ich ein Auto gekauft, hätten wir die Versicherung nicht finanzieren können.
Haben Sie mal versucht deutsch zu lernen, oder das Lesen und Schreiben, Frau Oluk?
Elif Oluk: Damals gab es dort keine Kurse. Als wir schließlich hierher zogen, hatten wir einen großen türkischen Bekanntenkreis und haben somit nur türkisch gesprochen.
Hasan Oluk: Meine Frau hat es sich diesbezüglich auch etwas bequem gemacht. Die Ehefrau eines Freundes hat beispielsweise nachträglich deutsch gelernt, aber meine Frau hat sich teilweise auf mich, teilweise auf die Kinder verlassen, hat nie gearbeitet, war dadurch nicht unter Deutsche gekommen. Sonst hätte sie deutsch lernen können.
Haben Sie gar nicht gearbeitet?
Elif Oluk: Da meine Tochter behindert ist, bin ich gezwungenermaßen zu Hause geblieben und musste mich um sie kümmern. Allerdings habe ich etwa drei Jahre für eine Putzfirma gearbeitet und konnte dann aufgrund meines Alters nicht mehr arbeiten. Ab und zu bin ich aber in privaten Haushalten aushelfen gegangen, zu meinem Nachteil leider ohne Versicherung.
Wenn Sie zurückblicken, wie würden Sie Ihr Leben in Dietzenbach beschreiben?
Elif Oluk: Ich hatte ein schönes Leben in Dietzenbach. In den ganzen Jahren hatte ich keinerlei Probleme mit dem Staat oder der Polizei. Auch mit meinen Nachbarn, ob Türken oder Deutsche, gab es keinen Ärger.
Haben Sie irgendwelche Erwartungen?
Elif Oluk: Wie man auch weiß, sind die Gehälter im Gegensatz zu früher gesunken. Wir haben Schwierigkeiten die Miete zu zahlen und das ist anstrengend. Diesbezüglich könnten wir Erwartungen haben.
Möchten Sie weiterhin hier leben oder streben Sie eine Rückkehr in die Türkei an?
Elif Oluk: Nein, für immer möchten wir nicht in die Türkei, da alle unsere vier Kinder hier sind. Wir würden dort maximal für drei Monate Urlaub machen. Ich bin 65 Jahre alt und ab jetzt lebe ich erst für Gott, dann für meine Kinder.
So, ich habe keine weiteren Fragen mehr. Ich bedanke mich vielmals.